Fremdsprachen
Der Fremdsprachenunterricht setzt in der Waldorfpädagogik mit dem ersten Schuljahr ein.
Vom Grundgedanken her ist der Fremdsprachenunterricht darauf angelegt, in den ersten drei Jahren rein aus dem Sprechen heraus zu wirken, in den folgenden Jahren neben der geschriebenen (gelesenen) Sprache die Grammatik bewusst anzulegen und mit Abschluss des 8. Schuljahres (eventuell sogar schon früher) das komplette Grundgerüst der Sprache verankert zu haben. Das ist natürlich ein hohes Ideal, das sich immer wieder an der Realität wird messen lassen müssen.
Neben Englisch wird von Beginn an eine zweite Fremdsprache gelernt. An vielen Waldorfschulen ist dies Russisch, aber auch Französisch oder Italienisch.
Die ersten drei Schuljahre
Während der ersten drei Schuljahre, in denen der Unterricht noch ohne schriftliche Arbeit durchgeführt wurde, lernen die Kinder, konzentriert, aktiv und aufmerksam zuzuhören. Dabei entsteht eine Vertrautheit mit dem Klang der fremden Sprachen. Es ist zu erwarten, dass sie nach bestimmten Mustern und im Rahmen bekannter Wortfelder mündlich eigene Formulierungen bilden können. Die Schülerinnen und Schüler können den Sinn einfacher Formulierungen in der Fremdsprache erfassen, z. B. Anweisungen verstehen und umsetzen. Sie haben zunächst gelernt, korrekt nachzusprechen und Fragen zu beantworten. Am Ende der dritten Klasse können sie aber auch selbst aktiv sprechen und sich an Dialogen beteiligen. Dabei verwenden sie den Wortschatz ihres kindlichen Umfeldes und bilden einfache Sätze unter Berücksichtigung grammatischer Grundformen; sie sind also in der Lage, eine erübte Situation auf eine andere zu übertragen. Beim Einstudieren szenischer Spiele haben sie gelernt, Texte auswendig wiederzugeben und eine fremdsprachige Rolle auszufüllen. Darüber hinaus sollten sie auch mit Elementen der landestypischen Kultur (Sitten, Feste etc.) vertraut sein.
Spätestens mit Beginn der 4. Klasse tritt nun eine gravierende Veränderung im Sprachunterricht ein. Zum einen wird jetzt neben der gesprochenen Sprache auch die geschriebene (und gelesene) Sprache eingeführt und vertieft, zum anderen werden die bisher rein über das Sprechen „gelernten“ grammatikalischen Strukturen allmählich ins Bewusstsein gehoben und als Regeln gelernt.
Der Beginn des Bewusstmachens grammatikalischer Phänomene in der Sprache als Gerüst, an dem sich Satzbau, Sprachmelodie und „Sprachpsychologie“ orientieren, fällt zusammen mit der physischen Entwicklung des Kindes, in der Atemrhythmus und Herzschlag eine neue Verbindung eingehen. Es ist dies auch die Zeit, in der das Kind anfängt, eigene Maßstäbe der Orientierung zu suchen und sich von Elternhaus und Lehrerschaft zu lösen, also eine gewisse Selbstständigkeit erwirbt. Dieser physisch-psychischen Entwicklung begegnet der Fremdsprachunterricht mit dem Einführen der Schrift und der Grammatik, der Deutschunterricht z. B. mit der Sprachform der Alliteration und ihrer Ausdrucksmöglichkeit.
Im sechsten Jahr ihres Fremdsprachunterrichts sollten die Kinder in der Lage sein, einfache Texte zu verstehen, den Sinn evtl. aus dem Kontext zu erschließen, und aus dem Gedächtnis wiederzugeben – schriftlich und mündlich. Das Textverständnis kann evtl. auch durch Inhaltsangaben in der Muttersprache geprüft werden. In der Fremdsprache können die Schülerinnen und Schüler nacherzählen – gelenkt durch die Lehrerin bzw. den Lehrer – und einfache Sachbeschreibungen geben. Sie verfassen eigene Texte nach Stichworten und beherrschen die grundlegenden orthographischen Regeln. Auch die fundamentalen Grammatikstrukturen sollten erkannt und angewendet werden. Die 12jährigen Kinder besitzen nun auch schon einen ausreichenden Wortschatz, um in zusammenhängenden Sätzen freier über sich und ihre Umgebung erzählen zu können. Sie sind in der Lage, ein kurzes Kontaktgespräch oder ein einfaches Gespräch mit einer vertrauten Person zu führen bzw. ein kleines Rollenspiel zu gestalten. Die Schülerinnen und Schüler müssen dabei selbst erfahren, dass sie im Umgang mit der Fremdsprache eine anfängliche Kompetenz erworben haben.
Bis zum Ende der achten Klasse müssen die Schülerinnen und Schüler auf die selbständige Arbeitsweise der Oberstufe vorbereitet werden. Sie sollten daher in der Lage sein, sich an einem lebhaften und vielseitigen Unterrichtsgespräch zu beteiligen und dabei die besonderen Ausdrucksmöglichkeiten und Qualitäten der fremden Sprache erleben. Landeskundliche Kenntnisse und Offenheit für eine andere Kultur sind wichtige Grundlagen für einen weiten Bewusstseinshorizont der jungen Menschen. Sie können nun im Allgemeinen ein einfaches Gespräch über vertraute Themen auch mit wenig Vorbereitung in zusammenhängenden Sätzen führen, persönliche Meinungen angemessen ausdrücken und für sie wichtige Informationen austauschen. Im Gespräch und beim Vorlesen eines Textes mit bekanntem Sprachmaterial wird man erwarten können, dass die Phonetik und Intonation der Fremdsprache beherrscht werden.
Alle Schülerinnen und Schüler sollten im achten Schuljahr in der Lage sein, ein kurzes, ihren persönlichen Interessen und sprachlichem Vermögen entsprechendes Referat zu halten; bei der Vorbereitung könnten sie auf die Hilfe der Lehrerin bzw. des Lehrers zurückgreifen. Beim Einstudieren eines fremdsprachigen Klassenspiels wird das Verstehen, Auswendiglernen und sinngemäße Wiedergeben längerer Passagen vorausgesetzt. In der schriftlichen Arbeit sollten jetzt die grundlegenden grammatischen und orthografischen Regeln weitgehend beherrscht werden. Auf dieser Grundlage müsste es möglich sein, Sachverhalte aus verschiedenen Sichtweisen darzustellen, Briefe (auch Geschäftsbriefe) zu schreiben und erste Formen des kreativen Schreibens zu erproben. Ihre Fachkompetenz können die Schülerinnen und Schüler durch regelmäßige kleine Kontrollarbeiten und Diktate selbst einschätzen, ihre Hefte sollten sie eigenständig, auf hohem Niveau – ordentlich und vollständig – führen können. Auch der Umgang mit einem zweisprachigen Wörterbuch dürfte keine Probleme mehr bereiten. Weiterführende Bedeutungen können aus dem Kontext erschlossen werden.
Inhaltlich orientiert sich der Fremdsprachenunterricht der Mittelstufe an den Hauptthemen der jeweiligen Klassenstufen und dort namentlich an den Themen der sprachlichen Epochen (Deutsch, Geschichte, Geographie). So kann „synergetisch“ Landeskunde und erste Literatur (etwa ab Klasse 7) an die Epochen angeschlossen werden, was zu einer weiteren Vertiefung der Kompetenzen führt. Im Bereich der Oberstufe (Klasse 9-12) werden die Inhalte dann spezifischer auf die jeweilige Sprache bezogen, auch hier bleiben aber Bezüge zu den Hauptthemen der Klassenstufen notwendig erkennbar, wenn Kompetenzerwerb, wie hier beschrieben, sich vornehmlich an den Entwicklungsaufgaben und den damit verbundenen Fragen orientiert.
Eine solide Weltbeziehung durch die Kräfte des Denkens oder auch Urteilens und der Betätigung des Willens (Handeln, Schaffen, Gestalten) zu gestalten, ist die große übergeordnete Entwicklungsaufgabe der Oberstufe.
Aufbauend auf die Kenntnisse und Fertigkeiten der ersten acht Schulstufen geht es in der Oberstufe um die Entwicklung der individuellen Urteilskraft. Von der Kenntnis zur Erkenntnis gelangen heißt, Funktion und Wirkung der (Fremd-) Sprache zu durchschauen, sprachspezifische Phänomene im Vergleich zur Muttersprache zu verstehen und das Verständnis für andere Kulturen und Lebensweisen zu vertiefen. So kann der Jugendliche zum Mittler zwischen der eigenen und der fremden Kultur werden. Im Sprechen und im Schreiben soll die Fremdsprache zu einem Instrument des Umgangs mit der Welt und des Ausdrucks des eigenen Inneren werden.
Damit der Jugendliche echtes Weltinteresse entwickeln kann, muss der Fremdsprachenunterricht in der Oberstufe von Enthusiasmus getragen sein, an die Interessen der Jugendlichen (latente Fragen) anknüpfen und den individuellen Lernzugängen mit Methodenvielfalt begegnen. Es geht auch darum, dass die Jugendlichen zunehmend Verantwortung für die eigene Leistung übernehmen und schließlich Lernen als selbst organisierten Prozess gestalten können. Möglichkeiten zur Selbstevaluation sind dabei besonders zu berücksichtigen
Der Lehrplan der österreichischen Waldorfschulen schließt sich dem gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (ERS) des Europarates an. Insofern folgen die kommunikativen Teilkompetenzen, die Schüler und Schülerinnen der Oberstufe erreichen sollen, den international standardisierten Kompetenzniveaus.
Von der ersten bis zur achten Schulstufe sollen die Schülerinnen und Schüler in allen Bereichen das Kompetenzniveau A2 erreicht haben. Nach der 10. Schulstufe soll in der ersten Fremdsprache (Englisch) das Niveau B1 erreicht sein, nach der 12. das Niveau B2.