Eurythmie
Eurythmie ist eine Bewegungskunst, die auch an Waldorfschulen unterrichtet wird. Im Unterschied zu gymnastischen, pantomimischen oder tänzerischen Bewegungen, die frei gestaltet werden können, gibt es in der Eurythmie bestimmte Gebärden für Buchstaben und Töne.
In der Lauteurythmie wird dargestellt, welche Laute in einem Gedicht enthalten sind. Die Toneurythmie bringt die unterschiedlichen Tonintervalle musikalischer Kompositionen zum Ausdruck.
Die Musik wird in den ersten beiden Schuljahren im Eurythmieunterricht stimmungs- und bildunterstützend eingesetzt. An den eigentlichen Grundelementen der Musik wird zunächst noch nicht bewusst gearbeitet. Im Laufe des dritten Schuljahres wird erstmalig das Musikstück selbst Gegenstand der Betrachtung. In noch sehr zarter Weise werden die Schülerinnen und Schüler an das Erfassen innerer Gliederungen herangeführt. Die bisher vorherrschende Einheitlichkeit zerfällt, das Ganze wird in sich differenziert erlebt. Wenn sich um das 10. Lebensjahr die starke innere Verbindung mit der Umgebung schwächt, erleben die Kinder einen deutlichen Gegensatz der Umwelt zur eigenen Innenwelt. Beide Welten stehen in dauernd wechselnden Beziehungen zueinander. Die entsprechenden seelischen Grundbewegungen („von mir aus auf die Welt zu“ und umgekehrt „Zurückziehen auf sich selbst“) klingen musikalisch in den Stimmungen der großen und der kleinen Terz an. Ihr Stimmungsgehalt und die eurythmischen Gebärden werden deshalb in der dritten Klasse erarbeitet.
Im neunten Lebensjahr beginnt sich der normale Atem-Puls-Rhythmus des Menschen (im Verhältnis von 1 : 4) zu etablieren. Vielfältige rhythmische und metrische Übungen unterstützen diesen Prozess. Beginnend mit dem dritten Schuljahr werden in den musikalischen Rhythmen und vor allem in den sprachlichen Metren die pulsartigen Kürzen und die atemverwandten Längen in ein harmonisches und in der Erziehung harmonisierend wirkendes Verhältnis gebracht. Die Kinder lernen daher, die rhythmische Gestalt (Kürzen und Längen) einfacher sprachlicher Metren aus dem Hören zu erkennen und sie mit Schritten und taktierenden Gebärden eurythmisch zu gestalten. Im Laufe des dritten Schuljahres lernen die Schülerinnen und Schüler darüber hinaus die eurythmischen Lautgebärden, die bisher nur unbewusst nachahmend gestaltet worden sind, bewusst kennen; sie lernen die einzelnen Gebärden in der Regel aus elementaren Bildern der Lautstimmungen. Damit erwerben die Kinder jetzt die Möglichkeit, sich eigenständig eurythmisch auszudrücken: Aus den einzelnen Lautgebärden können sie erste Wortgebärden bilden und damit eurythmisch „sprechen“.
Wenn die Bewegungsfreude der Schülerinnen und Schüler in der Mittelstufe nachlässt, schwindet meist auch die Bereitschaft zum ausdrucksvollen Gestalten mit den eigenen Bewegungen. In dieser Zeit kann der Einsatz von Eurythmiestäben in Kombination mit geometrischen Raumformen zum Überwinden des Schwereerlebnisses beitragen. Gleichzeitig erleben die jungen Menschen neben der zunehmenden Autonomie eine deutliche Kluft zwischen der eigenen Innenwelt und der Umwelt. Dieser Prozess des Zerfallens kann in der eurythmischen Arbeit mit Gegenrhythmusübungen begleitet werden. In der Toneurythmie – der gebärdenhaften Darstellung von musikalischen Intervallen – bietet die Arbeit an der Tonleiter eine Entsprechung für die innere Suchbewegung im Übergang zum Jugendalter: Im Hören und Gestalten vor allem der Oktav (Grundtonerleben und Ziel der Tonleiter) drückt sich die Spanne der jugendlichen Suchbewegung aus. Während der junge Mensch aber das Ziel zunächst nur erstreben kann, wird im Intervall erlebbar: Es gibt ein Ziel – und es ist erreichbar. Andererseits wird die bisherige „einfache“ eurythmische Gestaltung insbesondere im eurythmischen Erarbeiten von Musikstücken (dem musikalischen Rhythmus folgende Raumformen und einfache Tongebärden) dynamisch komplexer; ein erstes bewusstes Arbeiten mit inneren Erlebnissen wird möglich.
Sinnvoll erscheint außerdem die Arbeit mit geometrischen Gruppenformen angesichts der nachlassenden Bewegungsfähigkeiten und -willigkeit des beginnenden Pubertätsalters einerseits und der deutlich erwachenden kognitive Fähigkeiten andererseits. Denn die geometrischen Gesetzmäßigkeiten der Formprinzipien können weitgehend eigenständig erarbeitet werden; sie sind aufgrund der Kenntnis geometrischer Gesetze durch Nachdenken völlig durchschaubar. Es kommt dabei nicht auf das persönliche Gefühl oder eigenen Interpretationen an, sondern auf folgerichtiges, präzises und bewusstes Bewegen. Einerseits fällt diese Art der Bewegungen den pubertierenden Schülerinnen und Schülern noch am leichtesten, andererseits korrigieren die selbst erkannten Gesetze objektiv. Das möglichst perfekte Gestalten der Bewegungen, die man im Vorhinein selbst projektiert hat, kann sehr befriedigend wirken. Diese Arbeit wird durch das bewusstere, reflektierende Unterrichtsgespräch begleitet.
Wenn der Wunsch und die Fähigkeit, sich mit seinen Fähigkeiten und Ideen einzubringen deutlich zu Tage treten, ergeben sich für die Lehrerin bzw. den Lehrer die Chance und die Notwendigkeit, den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit zu gestaltender Mitarbeit zu geben. So ist es jetzt gut möglich, die Schülerinnen und Schüler nach Vorschlägen für Stücke zu fragen, die dann gemeinsam eurythmisch erarbeitet werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, ihnen mehrere Stücke vorzustellen und eines davon auswählen zu lassen. Gruppen können Teile der eurythmischen Ausgestaltung eigenständig übernehmen: choreographische Ideen erproben und vorstellen, Gebärdenfolgen erarbeiten etc. Die eurythmischen Gebärden werden dabei nicht nur aus dem Bildcharakter der Laute bzw. des Textes gestaltet, sondern aus dem Erfühlen der inneren Qualitäten der Sprache oder der Musik: ihrer Dynamik, ihrer Härte oder Weichheit, ihres Tempos, ihrer inneren Bedeutung gebildet.
Die Erarbeitung der musikalischen Intervalle, die in der sechsten Kasse begonnen wurde, wird im siebten und achten Schuljahr mit dem eurythmischen Erarbeiten der musikalischen Grundphänomene Dur und Moll fortgesetzt. Stark verkürzt kann man sagen, dass auch im Unterrichtsthema Dur und Moll die Beziehung zwischen dem eigenen Inneren und der Außenwelt anklingt. Indem diese musikalischen Polaritäten nach anfänglichen Hörübungen in Bewegungsübungen überführt werden, wird das musikalische Erleben damit verleiblicht und intensiviert. Die jungen Menschen erleben die eigenen Entwicklungsfragen (in der Regel eher unbewusst) als musikalische Phänomene verobjektiviert.
Im achten Schuljahr werden die bekannten Stabübungen um das Stabwerfen erweitert: Die Schülerinnen und Schüler werfen sich die Stäbe anfangs in Reihen gegenüberstehend, später auch gemeinsam im Kreis stehend, gegenseitig zu. Neben Geschick und Präzision werden viele weitere Fähigkeiten verlangt und entwickelt: Geistesgegenwart und Mut, aber auch Vertrauen. Bei vielen Übungen wird zwischen dem Werfen in die eigenen Hände und dem Werfen zum Gegenüber rhythmisch abgewechselt. Dann schwingt die Tätigkeit mit dem Stab fortwährend von einer Tätigkeit bei mir selbst und einer Aktivität und Aufmerksamkeit bezogen auf die Mitschülerinnen und Mitschüler hin und her. Der persönliche Innenraum und der Außenraum werden abwechselnd ergriffen und der Wechsel zwischen den beiden wird harmonisiert. Ein wichtiges Element ist auch die zeitliche Nähe der verschiedenen Tätigkeiten: Beim Wurf zu einer Mitschülerin oder zu einem Mitschüler muss man fast zeitgleich zur einen Seite werfen und auf der anderen Seite fangen: Meine Tat in die Außenwelt (Wurf) und die Reaktion auf die Außenwelt (Fangen) kommen in ein enges und harmonisches Verhältnis zueinander.
Die starken seelischen Kontraste und Polaritäten, die als innere Situation der Schülerinnen und Schüler beschrieben worden ist, können eurythmisch intensiv mit dem Erarbeiten von Balladen und Humoresken begleitet werden. Als spezifische eurythmische Ausdrucksmittel werden dazu vom siebten Schuljahr an die Seelengesten erarbeitet. Die Grundlage für die Seelengesten ist die innerhalb eines Kulturkreises gesetzmäßige Entsprechung körperlicher Haltungen und seelischer Stimmungen. Mit den Schülerinnen und Schülern werden die Bewegungstendenzen verschiedenster Stimmungen erarbeitet und zu Seelengebärden (wie eingefroren wirkenden Haltungen bzw. Stellungen) verdichtet. Damit steht den jungen Menschen einerseits ein Instrumentarium zu Verfügung, seelische Stimmungen auszudrücken, ohne zu viel von ihrer eigenen Persönlichkeit preisgeben zu müssen. Andererseits wirkt die Entdeckung der objektiven, leiblichen Haltungen harmonisierend auf das noch chaotische, suchende Seelische: Es wird erlebbar, dass man mit seelischen Fragen nüchtern und geordnet umgehen kann. Die Seelengesten (einschließlich der eurythmischen Kopf- und Fußstellungen) können dann im eurythmischen Gestalten von Balladen, in denen ihrerseits seelische Dramatik, Probleme menschlichen Zusammenlebens und Schicksalsfragen verdichtet sind, vielfältig angewandt werden.
Die Entwicklungsschwerpunkte der Oberstufe (Bildung eines selbst gestalteten, eigenen Innenraumes, Erlangen einer tragfähigen Beziehung zur Umwelt, gedankliches Durchdringen der Phänomene der Welt) tauchen als Inhalt beispielsweise der Gedichte, aber auch als eurythmische Bewegungsaufgaben auf.
Ausgehend von normalen Bewegungsgesetzmäßigkeiten werden in der 9. Klasse die eurythmischen Bewegungsmöglichkeiten erarbeitet, aber auch individuelle Gestaltungsmöglichkeiten erprobt. In vielen Übungen taucht unterschwellig das Entwicklungsthema „Individuum und Gruppe“ auf. Die einzelnen Schülerinnen und Schüler brauchen die Gesamtheit der Mitschülerinnen und Mitschüler, um ihren Teil gestalten zu können, die Gruppe braucht die einzelne Person. Die Übung erfordert ein hohes Maß an Übersicht im Raum und vorausschauendes Denken der Formen. Während die Schülerinnen und Schüler in ihrem nur langsam bewusst werdenden biographischen Selbstentwurf noch keine Klarheit erlangen, löst sich das geometrisch-künstlerische Problem einerseits innerhalb gesetzmäßiger Vorgaben und andererseits individuell, je nach Intuitionsfähigkeit, Kreativität und Sozialkompetenz der jeweiligen Dreiergruppe. Die Aufgabenstellung kann von den Gruppen auf sehr verschiedenen Wegen gelöst werden. Die einzelnen Gruppen stellen ihre Ergebnisse vor. Die anderen Gruppen üben ihrerseits die einzelnen Lösungsvorschläge und bewerten sie im Gespräch qualitativ.
In der 10. Klasse wird das sich festigende Selbstbewusstsein unterstützt und die Selbstwahrnehmung insbesondere der eigenen Bewegung im Verhältnis zur Bewegung der Gruppe gefestigt, indem auf gemeinsam erarbeitete Gesetzmäßigkeiten aufbauend Choreographien entwickelt und als Gruppe eurythmisch gestaltet werden. Es entstehen komplexe eurythmische Übungen, die einerseits die Feinheiten der Bewegung schulen und andererseits die Schülerinnen und Schüler in eine ungewohnte Beziehung zur Geometrie und zur Umwelt setzen: Die eigene Gestalt wird bewusster betrachtet und in Beziehung zu äußeren Gesetzmäßigkeiten stehend erlebt. Die eurythmischen Bewegungen können in dem Maße eine neue Qualität gewinnen, in dem es gelingt, den Umraum um die Leibesgestalt (im Bild der sich unendlich ausdehnenden Ebenen) in die eigene Bewegung (in diesem Falle insbesondere der eurythmischen Gebärden) mit einzubeziehen.
Neben der Arbeit an verschiedenen eurythmischen Themenschwerpunkten sind die Jugendlichen der 11. und 12. Klasse in der Lage, eigenständig solistische Arbeiten (insbesondere im Bereich der Lauteurythmie) zu gestalten und aufzuführen (oft erst in der 12. Klasse). Die Grundlage dazu bilden die Kenntnis und die Übung vieler eurythmischer Formprinzipien und Bewegungsarten. Die vielfältigen Erfahrungen der letzten Schuljahre haben die Schülerinnen und Schüler (im Idealfall) in die Lage gesetzt, ihr kreatives Potential zu nutzen und eigene Ideen umzusetzen. Ausgehend von der Wahl eines geeigneten Gedichtes über eine Arbeitsphase mit choreographischen Fragen und Übstunden bis hin zur Aufführung und zu Erläuterung der eigenen Intentionen ergibt sich eine Vielzahl von Arbeitsschritten. Sie sind einerseits notwendig für den eurythmischen Arbeitsprozess, weisen in ihrer Urbildhaftigkeit aber über sich selbst hinaus und können exemplarischen Charakter für einen komplexen Arbeitsablauf im Allgemein und für eigenständiges, selbstsicheres Gestalten und Präsentieren im Besonderen erlangen.
Die Schülerinnen und Schüler haben oder entwickeln eigene künstlerische Intentionen und sind (mit gelegentlicher Betreuung) in der Lage, sie von der Stückauswahl bis zur Aufführung weitgehend eigenständig zu verwirklichen.
Insbesondere durch das Heranziehen und exemplarische Erarbeiten von Musikstücken und Gedichten aus verschiedenen Entstehungszeiten wird bewusst an Stilkenntnis und Stilbewusstsein gearbeitet. Ansatzweise kann man Schülerinnen und Schülern zu Bewusstsein bringen, dass im Auftauchen und der Entwicklung der Stile und Stilepochen die Bewusstseinsentwicklung der Menschheit als Ganzes anschaulich und erlebbar wird. Im Weg der Stile bis zur Postmoderne erarbeiten die jungen Erwachsenen einen Bewusstseinsweg, der zugleich ihr eigener Entwicklungsweg, ihr Weg ins Erwachsenenbewusstsein und zum eigenen Stil, ist. Die verschiedenen eurythmischen Bewegungsqualitäten, die Basis der Gestaltung der verschiedenen Stile sind, werden erarbeitet.
Kompetenzen, bzw. Fähigkeiten, die im Eurythmieunterricht themenschwerpunktübergreifend gebildet werden sind: Geschicklichkeit, Steigerung der Bewegungsfähigkeiten (insbesondere der Koordinationsfähigkeit), Steigerung der Selbstwahrnehmung auf leiblich, seelischer und geistiger Ebene (durch intensive Körperarbeit), Bewegung aus dem Spannungsfeld zwischen Raum, Zeit und dem eigenen Zentrum, Steigerung der Lebensintensität, Übungsbereitschaft (Wille) und Übungsfähigkeit (Konzentration).